Von Thomas Moser aus der TAZ-Kontextwochenzeitung, Ausgabe KW9/2013
Am 11. März jährt sich der der GAU in Fukushima zum zweiten Mal. In Deutschland wurde der Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Doch beim Rückbau der Meiler mangelt es an Transparenz und Sicherheit. Ein Besuch in Rheinsberg und Obrigheim.
Goliath ist im Todeskampf – doch David bleibt wachsam. Im kleinen Obrigheim wird seit fünf Jahren das Kernkraftwerk auseinandergenommen. So, wie es die Anti-AKW-Bewegung immer wollte. Doch die örtliche Bürgerinitiative gibt es weiterhin. „Viele Leute denken, das Werk ist abgeschaltet, und es ist alles in Ordnung“, sagt Boris Cotar von der BI Atomerbe Obrigheim. Aber vieles, was um die Anlage herum geschieht, bleibt dubios, auch von amtlicher Seite. Die BI will genau hinschauen. Obrigheim sei eine Art Präzedenzfall, ergänzt Gertrud Patan aus der Gruppe. „Was hier geschieht, betrifft alle Kernkraftwerke.“Das Ende des Atomzeitalters begann in Deutschland vor 23 Jahren. Am Anfang stand eine Revolution. 1990 setzte die Bürgerbewegung in der DDR die Stilllegung sämtlicher kerntechnischer Anlagen durch. Die Kernkraftwerke Rheinsberg und Greifswald gingen vom Netz, der Bau des AKW Stendal wurde gestoppt. Ausgerechnet Atomkraftgegner Marke Ost, bart- und strickpullovertragende DDR Oppositionelle, versetzten damit gleichzeitig der westlich-kapitalistischen Atomwirtschaft einen Schlag – wenn auch mit zeitlicher Verzögerung.
Nach dem Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung mit den Energiekonzernen von 2000 ging drei Jahre später das AKW Stade vom Netz und im Mai 2005 Obrigheim. 2010 kündigten Merkel-Regierung und Atomwirtschaft den Konsens wieder auf. Der Ausstieg aus dem Ausstieg hielt vier Monate. Nach der Explosion der Blöcke von Fukushima im März 2011 folgte die erneute, panische Kehrtwende und der wohl endgültige Abschied von der Kernenergie. Derweil sind die Aufräumarbeiten im ostdeutschen Atompark längst in vollem Gange. Sie sind zum Muster für den Rückbau im Westen geworden.
Wie geht Atomausstieg? Erkundung in Rheinsberg
Mit dem Rückbau betrat man gleich mehrfaches Neuland: Physikalisch, ingenieurtechnisch, rechtlich. „Als die Kernkraftwerke gebaut wurden, hat kein Mensch daran gedacht, dass sie jemals wieder abgebaut werden müssten“, sagt Sebastian Pflugbeil in Berlin. Der Physiker war in der Wende-DDR als Vertreter des Neuen Forums Minister geworden und hatte die Abschaltung der DDR-Kernkraftwerke betrieben. Pflugbeil ist heute Präsident der atomkritischen Gesellschaft für Strahlenschutz. Nach der Katastrophe von Fukushima war er gefragt in den Medien.
Das KKW Rheinsberg liegt etwa 60 km nördlich von Berlin mitten im Naturschutzgebiet. 1966 ging es mit sowjetischer Unterstützung ans Netz. 1995 konnte der Rückbau beginnen, fünf Jahre dauerte das Genehmigungsverfahren. Anfänglich hieß es, 2009 sei man fertig, mittlerweile sind wir im Jahr 18 des Rückbaus, Ende offen. „Einige Jahre brauchen wir noch“, prognostiziert Jörg Möller, der Verantwortliche für Planung und Koordinierung des Projekts. Er arbeitet seit 30 Jahren hier, zu DDR-Zeiten schon als Ingenieur und Kerntechniker.Äußerlich sieht man dem Werk nichts an. Die Demontage geschah vor allem im Inneren. Der Zutritt zum Sicherheits- und Kontrollbereich erfolgt durch eine mehrstufige Schleuse. Alle Kleidungsstücke müssen abgelegt werden. Man wird komplett neu eingekleidet. Die Arbeiter und Techniker tragen orangefarbene Overalls, die Sicherheitsleute grüne. Jeder hat ein Dosimeter bei sich, das mögliche Strahlung misst. Die Anzeige zeigt Null. Ein „Kontrollregime“, sagt Jörg Möller, mehr als 20 Jahre nach dem Abschalten.
Rohrleitungen, Dampferzeuger, Turbine, Generator sind ausgebaut. Im Reaktorsaal, wo sich der Nuklearkern mit den Brennstäben befand, ist nur noch ein Loch. Das hochstrahlende Reaktordruckgefäß wurde im Jahr 2007 als Ganzes herausgenommen, mit einem Stahlpanzer ummantelt und nach Greifswald zum bundesweiten Zwischenlager gefahren. Ein solcher Transport mitten durchs Land sei ein „bisher einmaliges Vorhaben“ gewesen, sagt Möller. Es ist nicht ganz klar, ob er das stolz meint oder Bedenken hat. Der verseuchte Atomschrott muss dekontaminiert werden. Das geschieht mit Sandstrahlern, mit Wasserschläuchen – oder gar mit einem Schwamm wie für Geschirr in der Küche. Abenteuerlich angesichts dieser Hochtechnologie.
Gleiches gilt für die Schleusungsvorgänge, die im Prinzip Systemverletzungen darstellen. Vor der Ausschleusung aus dem Kontrollbereich wird sämtliche Wäsche wieder ausgezogen. Sie verbleibt im inneren Bereich und wird in der dortigen Wäscherei gewaschen. Nackt stellt sich jeder Mitarbeiter in eine Kontrollkapsel und wird auf Strahlung geprüft. Eine Automatenstimme befindet: „Keine Kontamination festgestellt“. Schwer vorstellbar, dass durch das tägliche, tausendfache Reinund Rausgehen keine Radioaktivität nach außen geschleppt wird.
Die Kernkraftwerke im Osten blieben auch nach dem Ende der DDR in Staatsbesitz. Sie gehören den Energiewerken Nord (EWN). Doch, wie der Bau von Kraftwerken, ist auch der Rückbau eine Sache der Marktwirtschaft. Neue Technologien müssen entwickelt werden, Abschirmmethoden gegen Strahlung, Computerprogramme, spezielles Werkzeug. Die EWN bewegt sich, wie viele andere Firmen, als Anbieter auf diesem Rückbau-Markt. Sie haben sich in Obrigheim für den Ausbau vor allem der Nuklearteile beworben – und den Zuschlag erhalten.
Obrigheim: Zwischen Transparenz und Catenaccio
Obrigheim ist eine kleine Gemeinde am Neckar zwischen Heilbronn und Heidelberg. Der dortige Meiler war 1968 der erste kommerziell genutzte. Seit 2008 wird das Kernkraftwerk Obrigheim (KWO) zurückgebaut. Die Anlage gehört der Energie Baden-Württemberg (EnBW), die in Philippsburg (bis 2019) und Neckarwestheim (bis 2022) noch Atomstrom produziert.
Ortstermin KWO. Ulrich Schröder, Pressesprecher des Konzerns, ist da, Claudia Oeking, die Leiterin der Abteilung Öffentlichkeit der EnBW Kernkraft, sowie Manfred Möller, der technische Geschäftsführer des KWO. Die Fabrik ist eine Baustelle, auch rechtlich. Ein Besuch, drei Stunden zwischen Transparenz und Catenaccio. Die Aufsichtsbehörde, sprich das Landesumweltministerium, habe jeden Tag die Möglichkeit, zu Kontrollen in die Anlage zu gehen, erklären die EnBW-Vertreter vorneweg. Frage: „Wie oft ist die Behörde da?“ Ulrich Schröder, EnBW: „Das müssen Sie die Behörde fragen. Ich bin nicht dazu da, Auskünfte über die Atomüberwachung für das Land Baden-Württemberg zu geben. Aus unserer Erfahrung: fast täglich.“ Das Umweltministerium in Stuttgart teilt auf Nachfrage mit: 2012 war es 17 Mal im Werk.
In Obrigheim läuft Abbauphase zwei. Ausgebaut wurden bisher Anlagenteile wie Turbinen, Generator, Pumpen, Wärmetauscher, Dampferzeuger. Der Reaktorkern befindet sich noch im Meiler. Die Brennstäbe sind herausgenommen und liegen in einem extra Gebäude unter Wasser, 342 Stück. Eigentlich ein gesetzloser Zustand, der durch rechtliche Winkelzüge um das Atomgesetz herum legalisiert wird. Auch das grün-geführte Umweltministerium akzeptiert das. Das nötige ordentliche Zwischenlager wurde vor acht Jahren beantragt. Eine Genehmigung fehlt bisher.
Die Brennstäbe sind noch aktiv und müssen ständig gekühlt werden. In der Kontrollwarte wird das überwacht, rund um die Uhr. Die Temperaturanzeige meldet 25° Celsius. In dem Raum sind Tausende von Knöpfen, Schaltern und Reglern installiert. Nach und nach verlieren sie ihre Funktion. „Stillgesetzt“ kann man auf vielen Klebezetteln lesen. Klar, kenne er jeden Knopf, antwortet einer der Techniker, der seit über 30 Jahren in der Warte Dienst tut. Techniker: „Wenn eine Meldung kam, hab ich genau gewusst, muss ich jetzt aufstehen oder kann ich mir Zeit lassen?“ Frage: „Gab es auch Meldungen, bei denen man schnell aufstehen musste?“ Techniker: „Ja, auch. *lacht* Das hat man zwar nicht so gern gehabt, aber natürlich, es gab schon Störungen, wo man sich kümmern musste.“ Oeking: „Dafür sind die Leute letztendlich ausgebildet. Es ist eine klassische ingenieur-technische Ausbildung, bis man hier arbeiten darf?“ Die Aufpasserin lenkt vom Thema Störfälle ab. Erfolgreich, der Mann hat verstanden.
Auf dem Gelände lagern im Freien Container mit Abfall. Ungesichert. „Wo sollen die hin?“ Antwort: „Zum Teil ins Endlager Konrad.“ Im Schacht Konrad soll aber frühestens ab 2019 radioaktiver Abfall endgelagert werden. Eine der Kernfragen des Atomausstieges ist: Wohin mit dem ganzen Atom- und Anlagenmüll? In Obrigheim fällt eine Masse von etwa 300.000 Tonnen an: Beton, Stahl, Schutt, Schrott. Nur ein Prozent sei radioaktiver Abfall, behauptet der Konzern. Das AKW Rheinsberg war von vergleichbarer Größe, aber leistungsschwächer und 13 Jahre weniger in Betrieb. Dort fallen zehn Prozent radioaktiver Abfall an. Die Lösung des Widerspruches: Die EnBW rechnet etwa fünf Prozent heraus, nämlich alles radioaktive Material, das dekontaminiert werden soll.Keiner reißt sich um den Atom-Müll
Der Abfall aus dem KWO wird auf einer Deponie im Nachbarkreis Sinsheim entsorgt. Frage: „Warum nicht auf der Deponie im dafür zuständigen Neckar-Odenwald-Kreis?“ Oeking: „Wir haben prinzipiell die Philosophie, dass wir über Vertragspartner nicht sprechen.“ – „Aber warum nimmt der Neckar-Odenwald-Kreis den Müll nicht ab?“ Möller: „Das müssen Sie den Kreis fragen.“ – „Was hat Ihnen denn der Neckar-Odenwald-Kreis?“ Schröder: „Wir werden nicht über Dritte reden.“ Die Auskunft des Neckar-Odenwald-Kreises lautet: Man habe seit einem gescheiterten anderen Müllprojekt mit der EnBW kein Vertrauen mehr in das Unternehmen. Damals sei es zu massiven Geruchsbelästigungen und Kritik in der Bevölkerung gekommen. Bei Müll aus dem Kernkraftwerk würde man jetzt erst recht Bürgerproteste befürchten.
Über Umwege hat die Öffentlichkeit jüngst erfahren, dass die EnBW in der Vergangenheit Atommüll in Russland entsorgen wollte. Zweifelhafte Entsorgungsverträge mit einem russischen Lobbyisten wurden bekannt, weil der Konzern Schadensersatzklagen gegen vier ehemalige Manager, unter anderem gegen den Ex-KWO-Geschäftsführer, angestrengt hat. Vier Landgerichte – Landau, Heidelberg, Mosbach, Heilbronn – sind damit befasst. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Mannheim in diesem Zusammenhang wegen des Verdachtes der Untreue und der Steuerhinterziehung gegen die EnBW. Der Gesetzentwurf im Bundesumweltministerium vor wenigen Wochen, der Atommüll-Entsorgungen im Ausland, so auch in Russland, möglich gemacht hätte, war also nicht ganz motivlos. Doch Ursula Heinen-Esser, die Staatssekretärin in Berlin, beschwichtigt und versichert: „Wir wollen aus Deutschland keinen Atommüll ins Ausland exportieren.“ Zum EnBW-Fall will sie sich nicht äußern. Den kenne sie nicht. Auch keiner der beiden BMU-Vertreter, die zum Interview dazu geholt worden sind, kennt ihn. Bernhard Massing, der zuständige Referent für die Stilllegung der Atomanlagen, ist am Vormittag extra für den Termin aus Bonn angereist und fährt danach wieder zurück. So wichtig scheint das Thema dem Ministerium zu sein.
Boris Cotar hat gegen den Abriss in Obrigheim geklagt, zusammen mit anderen Mitgliedern aus der BI Atomerbe Obrigheim. Nicht, weil er dagegen wäre, im Gegenteil, aber er will, dass der Abriss kontrolliert und sicher geschieht. Solange die Brennstäbe noch in der Anlage sind, dürfe nicht weiter abgebaut werden. Erst müssten die in einem sicheren Zwischenlager untergebracht sein. Die gesetzlichen Grundlagen für die Stilllegung und den Abbau von Kernkraftwerken seien vage und ungenau, sagt Mitstreiterin Gertrud Patan. Der Ermessensspielraum der Behörden sei groß und das wiederum nutze den Betreibern, weil Genehmigungen dann großzügiger ausfallen könnten. Die Klage der BI ist die erste zum Thema Rückbau. Den Eilantrag auf Stopp des Rückbaus hat der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim im letzten September verworfen. Die eigentliche Hauptverhandlung steht aber noch aus. Sie ist weichenstellend.
Eine Entscheidung ist vor allem für Abbauphase drei im KWO von Bedeutung. Denn dann geht es an den hochstrahlenden Reaktorkern. Im März 2010 hat EnBW den entsprechenden Ausbau-Antrag gestellt. Laut Landesumweltministerium ist beabsichtigt, die Genehmigung „im 2. Quartal 2013“ zu erteilen. Die Obrigheimer Bürgerinitiative will Öffentlichkeitsbeteiligung bei jeder Teilgenehmigung für jeden Rückbauschritt durchsetzen. In ihrem Büro im Ministerium befindet die Staatssekretärin Ursula Heinen-Esser, die Initiative solle sich doch „erst mal ein Stück weit darüber freuen“, dass das Kraftwerk stillgelegt wird. Im Übrigen hält die CDU-Politikerin eine einmalige Öffentlichkeitsbeteiligung für „ausreichend“. Auch das grüne Umweltministerium in Stuttgart findet das ok. Zuviel Öffentlichkeit würde zu „allgemeinem Desinteresse“ führen, heißt es. Und das, so der Logiksalto weiter, würde „statt Transparenz Intransparenz bewirken“.
Das Ende des KWO war einmal für 2017 vorgesehen. Im Augenblick wird ein Zeitfenster zwischen 2020 und 2025 diskutiert. Bis zu 17 Jahre Rückbau. Rheinsberg lehrt anderes. Dort läuft Abbaujahr 18, mindestens sieben Jahre muss noch ausgeräumt werden, macht 25 Jahre. Übertragen auf Obrigheim hieße das: Deadline nicht vor 2033. Doch mittlerweile tut sich in Rheinsberg noch ein ganz neues Zeit-Szenario auf. Wenn etwa im Jahr 2020 das Werk ausgeräumt sein soll, soll nicht etwa der finale Abriss erfolgen, sondern, so Jörg Möller: „Dann schließen wir den Bau zu, lassen fünf Jahrzehnte abklingen und realisieren danach den konventionellen Abriss.“ Denn 50 Jahre Strahlung abklingen zu lassen, sei billiger als das Bauwerk restlos zu dekontaminieren. Im Klartext: Die Atomruine von Rheinsberg wird mindestens bis 2070 im naturgeschützten Brandenburger Seenwald stehen.Beim BMU in Berlin sind die Berechnungen gar nicht so weit davon entfernt. Für die größeren Kraftwerke geht man von einer Rückbauzeit von „30 bis 35 Jahren“ aus. Für Neckarwestheim Zwei hieße das: Abschaltung 2022 plus 35 Jahre Abriss gleich grüne Wiese 2057. Mit solchen Zeitperspektiven ist auch die Kostenfrage ganz neu aufgeworfen. Auf 30 Milliarden Euro beziffert das BMU den Rückbau aller AKW. Und so hoch seien auch die Rückstellungen der Betreiber, erklärt die Staatssekretärin. Atomkritiker gehen von mindestens 50 Milliarden Euro allein für die Rückbaumaßnahmen aus, ohne Entsorgung. Die Atomkraftvertreter aus Karlsruhe interessiert die Rheinsberger Zeitplan-Erfahrung nicht. Sie propagieren ungerührt in Bälde die grüne Wiese von Obrigheim. Und meinen noch immer, sie würden diese Technologie beherrschen.